Menschen scheinen sich an unterbrochene oder nicht abgeschlossene Aufgaben besser zu erinnern als an abgeschlossene. Der sogenannte Zeigarnik-Effekt wurde nach der russischen Psychologin Bljuma Zeigarnik benannt, welche dieses Phänomen 1927 zum ersten Mal beschrieb. Mit Bedacht am rechten Ort umgesetzt, kann der Zeigarnik-Effekt helfen, Besucher einer Website zu binden.
Menschen scheinen sich an unterbrochene oder nicht abgeschlossene Aufgaben besser zu erinnern als an abgeschlossene. Polyglotte Zeitgenossen bezeichnen dieses Phänomen übrigens gerne als «Cliffhanger-Effekt». Aber weil es die russische Psychologin Bljuma Zeigarnik 1927 als erste beschrieben hat, trägt es offiziell halt ihren Namen. Für die Web-Branche ist das insofern relevant, als es helfen kann, Besucher länger auf einer Website zu halten.
Es sei hier nicht verheimlicht, dass sich die von Frau Zeigarnik gefundenen Zusammenhänge in späteren Experimenten oft nicht reproduzieren liessen. Das hindert aber weder Marketingfachleute noch Webdesigner daran, sich des Effekts zu bedienen. Die Kunst dabei ist, den Nutzenden laufend neue Aufgaben zu stellen. Gängig ist etwa der Trick, bestimmte Inhalte hinter einem animierenden Teaser zu «verstecken». Um das Ganze zu sehen, sollen die Nutzenden dann einen Button klicken, auf dem etwa steht: «Lesen Sie den ganzen Beitrag!».
Gerne wird der Effekt auch genutzt, um die Konversionsraten in Shops zu erhöhen. Dabei wird das Einkaufen durch geschickt gesetzte Handlungsaufforderungen (Call to Action, CTA) zur Aufgabe hochstilisiert. Und begleitend dazu zeigt man der geschätzten Kundschaft anhand einer Fortschrittsanzeige, dass sie ebendiese Aufgabe, nämlich hier und jetzt Geld auszugeben, noch nicht abgeschlossen hat.
Das hat zugegebenermassen einen gewissen manipulativen Beigeschmack und kann auch kontraproduktiv sein. Zart Besaitete jedenfalls könnten sich drangsaliert fühlen, wenn sie mehrmals mit Hinweisen wie «Nur noch ein Klick…!» oder «Nur noch zwei Artikel an Lager!» zum Abschliessen gedrängt werden.
Auch wenn das Ganze etwas wacklig anmutet – mit Bedacht am rechten Ort umgesetzt, kann der Zeigarnik-Effekt helfen, Besucher zu binden. Bevor man ihn aber rabiat zur Verkaufsförderung einsetzt, sollte man schon sicher sein, dass sich die Zielgruppe vom offensiven Flair solcher Massnahmen nicht verscheuchen lässt.
Veröffentlicht in: Netzwoche Ausgabe 4, 2021
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Inhaber, Expert Consultant
Dr. Christopher H. Müller, Gründer und Inhaber der Ergonomen Usability AG, promovierte am Institut für Hygiene und Arbeitsphysiologie der ETH Zürich. Er ist seit mehr als 22 Jahren Experte für Usability und User Experience. Sein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen ermöglicht es ihm, rasch die Bedürfnisse und Perspektiven der Kunden zu verstehen. Mit viel Kreativität und Mut unterstützt er seine Kunden in Digitalisierungsvorhaben und bei der Optimierung von Produkten, Dienstleistungen oder Prozessen. Er verfolgt einen praxisorientierten Ansatz und entwickelt massgeschneiderte Lösungen, die effektiv umgesetzt werden können. Dr. Christopher H. Müller ist Kolumnist in der Netzwoche. Weitere Engagements sind unter anderem Stiftungsrat bei der Stiftung Zugang für alle, Mitglied in zwei Swico-Beiräten und Co-Präsident der Regionalkonferenz Nördlich Lägern.