Das Internet macht Wissen zugänglich wie nie zuvor – doch führt es uns auch in die Falle des Dunning-Kruger-Effekts. Warum gefährliches Halbwissen oft lauter ist als echte Expertise und was wir dagegen tun können, erklärt diese Kolumne.
Theorie: Das Internet hat den Zugang zu Wissen demokratisiert. Informationen zu jedem erdenklichen Thema sind nur einen Klick entfernt, und jeder kann sich mit genügend Motivation und Interesse in ein Gebiet einarbeiten. In der Theorie führt dies zu einer kompetenteren Gesellschaft, in der Wissen geteilt und erweitert wird.
Realität: Ein paar Google-Suchen, ein paar YouTube-Tutorials, und schon fühlt sich mancher bereit, komplexe Themen zu erklären – sei es Medizin, Recht, Klimawissenschaft oder User Experience. «Es ist wahr, ich habe es im Internet gelesen», ist zu einem Mantra unserer Zeit geworden. Alternative Fakten proliferieren fast so eifrig wie parallele Universen.
Ein Beispiel: Ein neues, komplexes IT-System wird entwickelt, und plötzlich meldet sich der Head of Sales, der einen Artikel über aktuelle Designtrends gelesen hat, und fordert ein minimalistisches und zugleich ‚sexy‘ Interface. Dass Product Management und UX-Abteilung seit Monaten an einer benutzerzentrierten Lösung arbeiten, die auf Nutzerstudien und Testläufen basiert, um sicherzustellen, dass das Ergebnis den tatsächlichen Bedürfnissen der Anwender entspricht, wird dabei völlig ignoriert – ein klassischer Konflikt zwischen Meinungen und Fakten.
Laut einer Studie der University of Michigan überschätzen 64% der Menschen regelmässig ihr eigenes Wissen, vor allem wenn sie nur über oberflächliches verfügen. Das Phänomen hat sogar einen Namen: der Dunning-Kruger-Effekt. Er beschreibt, wie Menschen mit geringem Wissen in einem Bereich ihre Fähigkeiten überschätzen, während diejenigen, die wirklich kompetent sind, diese oft unterschätzen. Diese menschliche Disposition kombiniert mit ubiquitär verfügbarem Wissen lässt alternative Fakten zu Wahrheiten werden. Wer wissen will, wohin das führen kann, der führe sich den Film «Idiocracy» (2006) zu Gemüte.
Fazit: In der heutigen Informationsflut lassen sich Fakten nicht so einfach von gefährlichem Halbwissen unterscheiden, und die lautesten Stimmen sind nicht immer die kompetentesten. Gemäss Dunning-Kruger-Effekt sind wahre Experten zu demütig, während Laien ihre Fähigkeiten überschätzen. Ergo, das Internet verschafft uns zwar Zugang zu schier unendlichem Wissen, es kann jedoch jahrelange Erfahrung und Expertenwissen (in den Köpfen echter Menschen reflektiert) nicht ersetzen.
Veröffentlicht in Netzwoche Ausgabe 12, 2024
Inhaber, Expert Consultant
Dr. Christopher H. Müller, Gründer und Inhaber der Ergonomen Usability AG, promovierte am Institut für Hygiene und Arbeitsphysiologie der ETH Zürich. Er ist seit mehr als 22 Jahren Experte für Usability und User Experience. Sein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen ermöglicht es ihm, rasch die Bedürfnisse und Perspektiven der Kunden zu verstehen. Mit viel Kreativität und Mut unterstützt er seine Kunden in Digitalisierungsvorhaben und bei der Optimierung von Produkten, Dienstleistungen oder Prozessen. Er verfolgt einen praxisorientierten Ansatz und entwickelt massgeschneiderte Lösungen, die effektiv umgesetzt werden können. Dr. Christopher H. Müller ist Kolumnist in der Netzwoche. Weitere Engagements sind unter anderem Stiftungsrat bei der Stiftung Zugang für alle, Mitglied in zwei Swico-Beiräten und Co-Präsident der Regionalkonferenz Nördlich Lägern.