... oder die gefährliche Entscheidung, das eigene Konzept selbst zu testen. Gute User Experience ist das Fundament eines erfolgreichen Konzepts, sei es eine Website, eine App oder ein physisches Produkt. Sie ist die geheime Zutat, die Benutzer dazu bringt, sich in Ihre Kreation zu verlieben. Als UX-Consultants haben wir zahlreiche Design-Prozesse begleitet. Einer der trügerischsten Fallen, in die UX-Designer immer wieder hineintappen, ist der Drang, die eigenen Ideen und Konzepte selbst testen zu wollen. Warum ist das gefährlich? Welche Funktion kommt der neutralen Aussensicht zu?
Die Versuchung, die eigenen Konzept-Designs zu testen, ist oft gross. Auch bei Sarah*, einer engagierten UX-Designerin. Sarah hat viel Zeit und Energie in die Benutzeroberfläche einer E-Commerce-Plattform investiert. Die Qualitätssicherung ihres Konzepts war ihr eine Herzensangelegenheit. Ehrgeizig entschied sie sich deshalb, die Usability-Tests selbst durchzuführen. Diese Entscheidung markierte einen entscheidenden Wendepunkt im Projekt. Als die Testpersonen begannen sich durch die E-Commerce-Website zu navigieren, beobachtete Sarah die Interaktionen genau. Ihr geschultes Auge für Details und ihr Engagement trieben sie in diesem Unterfangen an. Doch in ihrem unerschütterlichen Wunsch nach einem erfolgreichen Konzept, begann Sarah die Testpersonen ohne ihr Wissen zu leiten. Sobald Probleme auftauchten, baute Sarah unbewusst subtile Tipps in die Wortwahl ihrer Fragen ein. Diese Intervention beeinflusste das Verhalten der Teilnehmer und umging kritische Usability-Probleme.
Wie Sarah fühlen sich viele Kreative dazu hingezogen, ihre eigenen Konzepte zu testen. Aber warum eigentlich? Dafür gibt es mehrere nachvollziehbare Gründe. Das tiefe Verständnis für das Design und die dahinterliegenden Prozesse weckt das Gefühl die richtige Person für die UX-Evaluation zu sein, anstatt spezialisierte UX-Researcher beizuziehen. Darüber hinaus bauen viele Stakeholder eine enge emotionale Bindung zu ihrer Idee auf. Durch ihre intensive Beteiligung an einem Projekt sind sie der Auffassung eine einzigartige Perspektive zu haben und deswegen durch eigenständige Tests den Erfolg des Projekts am besten sicherzustellen zu können.
So verständlich diese Beweggründe sind, sie bergen eine Reihe von Gefahren. Auf die sieben wichtigsten gehen wir im Folgenden ein.
((*Sarah ist natürlich nicht ihr wirklicher Name.))
1. Confirmation Bias – die Macht der Voreingenommenheit
Der Confirmation Bias ist ein psychologisches Phänomen: Menschen neigen dazu, Informationen zu bevorzugen, die ihre vorgefasste Meinung bestätigen. Wenn Stakeholder ihre eigenen Konzepte testen, werden sie unbewusst Opfer dieser kognitiven Verzerrung. Sie übersehen Usability-Probleme, weil ihr Wunsch nach dem Erfolg des Konzepts ihre Wahrnehmung beeinflusst.
2. Attachment Bias – es geht um Emotionen
Je stärker man selbst an der Konzeption einer Benutzeroberfläche beteiligt ist, desto mehr wird die eigene Objektivität getrübt. Kritik zu akzeptieren oder gar die eigene Arbeit zu hinterfragen, wird schwierig. Diese emotionale Blockade behindert das Identifizieren und Beheben wichtiger UX-Probleme.
Im Prinzip werden die Projektbeteiligten zu Eltern, welche die begangenen Fehler ihres Kindes nicht anerkennen wollen, selbst wenn konstruktives Feedback die Entwicklung des Kindes förderte.
3. Knowledge-Bias – die Innensicht
Zu jedem guten Design-Prozess gehören gründliche Überlegungen zum Interaktionskonzept. Aufgrund dieser Tiefe tendieren beteiligte Stakeholder davon auszugehen, dass Benutzer mit dem erstellten Entwurf auch auf die angedachte Weise interagieren werden. Diese Annahme kann einen realitätsfernen Kontext schaffen, der die Interpretation beeinflusst. In der Fachsprache nennen wir dies «Framing». Dieselbe Annahme verleitet jedoch auch dazu, bestimmte Informationen als «logisch» und «selbstverständlich» anzusehen. Genau diese Informationen werden dann leichtsinnig an Testpersonen weitergegeben, wodurch schnell eine verzerrende Hilfestellung geboten wird. Im Wesentlichen werden Stakeholder Opfer ihrer eigenen Innensicht.
4. Ressourcen und zeitliche Beschränkungen
Viele UX-Teams sehen sich bei UX-Evaluationen oft mit Zeit- und Ressourcenengpässen konfrontiert. Diese verleiten dazu, die Tests schnell und eigenhändig durchzuführen. Übereilte und unvollständige Tests führen jedoch dazu, dass Usability-Probleme übersehen und schliesslich ins Konzept (und noch schlimmer: ins Produkt) einzementiert werden. Zeitdruckt bewirkt zudem, dass unser Gehirn vermehrt Faustregeln (auch Heuristiken genannt) für Analysen und Entscheidungen verwendet. Diese Faustregeln sparen kognitive Ressourcen, führen jedoch auch zu Verzerrungen im Denkprozess, wie dem Confirmation-, Attachment- und Knowledge-Bias. Kurzum verstärkt der Spardruck nochmals alle zuvor genannten Probleme.
5. Tunnelblick
Für die Ausarbeitung eines Konzeptes werden Stunden, wenn nicht Wochen oder Monate investiert. Dies kann zu einem Tunnelblick führen. Mit diesen Scheuklappen werden Fehler übersehen, die für Aussenstehende, den Aussenblick, offensichtlich sind.
Dies ist vergleichbar mit einem Schriftsteller, der seine eigene Arbeit korrekturliest und dabei seine eigenen Tippfehler übersieht.
6. Qualifikationen
Spezialisierte UX-Kompetenzen sind für die Durchführung unvoreingenommener und effektiver UX-Evaluationen notwendig. Beispielsweise können einige Designer die besten Benutzeroberflächen konzipieren, ihnen fehlt es jedoch an den erforderlichen Kompetenzen für eine neutrale Moderation und Analyse. Ohne dieses Fachwissen können die Ergebnisse von Usability-Tests ungenau sein oder falsch interpretiert werden.
7. Das Innovationsdefizit
Wenn man sich ausschliesslich auf die eigenen Lösungen für identifizierte UX-Probleme verlässt, hemmt dies die Innovation. Ohne externe Perspektiven muss man sich auf interne Ideen und Standpunkte beschränken. Neue Perspektiven sind entscheidend, um Designinnovationen voranzutreiben.
Für auf den Weg
Es ist verlockend, die selbst erstellten Konzepte eigenhändig zu testen. Dabei ist jedoch Vorsicht geboten. Voreingenommenheit, kognitive Verzerrungen und beeinträchtigte Objektivität verzerren die Ergebnisse der Evaluation unweigerlich. Externes Feedback schafft hier Abhilfe. Dieses zu akzeptieren ist kein Zeichen von mangelnder Arbeit, sondern der handfeste Beweis für das Streben nach Qualität.
Consultant
Joel Siebenmann unterstützt die Ergonomen als UX & Usability Consultant mit seiner Expertise in der Gestaltung und Optimierung von benutzerzentrierten Prozessen. Mit seiner lösungsorientierten und systematischen Arbeitsweise spezialisiert er sich darauf, Business-Ziele mit den Bedürfnissen der Nutzer in Einklang zu bringen. In Kundenprojekten vertritt er die User-Centered-Design-Perspektive in allen Projektphasen - von der Erhebung der Nutzerbedürfnisse, über die Konzeption von Lösungen und deren iterativer Optimierung, bis hin zur Umsetzungsbegleitung. Dabei nutzt er sein Hintergrund in Psychologie, um durch qualitatives und quantitatives UX-Research datenbasierte Entscheidungen zu treffen. Seine besondere Leidenschaft gilt Design-Thinking Workshops und Design Sprints, in denen er seine Kreativität und sein Engagement voll einbringen kann.