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Dimensionen des Prototyping

Prototypen sind in der Produktentwicklung inzwischen zum Standard geworden. Man braucht sie, um Ideen zu skizzieren, Konzepte zu visualisieren und um mit Nutzern zu testen. In diesem Artikel zeigen wir auf, dass Prototypen auf den drei grundlegenden Dimensionen «visueller Reifegrad», «Informationstreue» und «Interaktionstiefe» beurteilt werden können.

23. April 2020
Dr. Lukas Bänninger, Expert Consultant

Expert Consultant

Andreas Schrafl, MSc, Experte Concept & Prototyping, Consultant

Experte Concept & Prototyping, Consultant

Spätestens mit Lean UX sind Prototypen in der agilen, iterativen und hypothesengetriebenen Produkt-Entwicklung zum Standard geworden. Man braucht sie, um Ideen und Konzepte zu skizzieren und weiterzuentwickeln, um Feedbacks einzuholen und Hypothesen zu prüfen. Es gibt demnach verschiedenste Arten von Prototypen und auch bezüglich des Reifegrades gibt es gewaltige Unterschiede, welche sich auf drei Dimensionen reduzieren lassen. Diese drei Dimensionen bestimmen massgeblich, wie viel Aufwand für einen Prototyp betrieben werden muss. In der Folge zeigen wir Ihnen diese drei Dimensionen auf und legen dar, wie man mit deren Hilfe besser und zielgerichteter Prototypen plant und umsetzt. 

Am offensichtlichsten können Prototypen nach ihrem visuellen Reifegrad unterschieden werden: von Skizzen über Wireframes zu fast pixelgenauen Hi-Fi Prototypen. Zwei weitere Dimensionen spielen aber eine ebenso wichtige Rolle bei der Überlegung, was ein Prototyp leisten können muss, um die definierten Fragestellungen zu beantworten oder die formulierten Hypothesen zu prüfen: Die Informationstreue und die Interaktionstiefe. Diese beiden Dimensionen sind weitestgehend unabhängig vom visuellen Reifegrad, beeinflussen die Qualität des Prototyps aber ebenfalls grundlegend. 

Dimension 1: visueller Reifegrad 

Ob ein Prototyp von Hand schnell gezeichnet wurde oder jeder Pixel den korrekten Farbwert ausweist, erkennt jede(r). Doch gibt es hier Zwischenstufen, die bei geschickter Anwendung die erlebte Nutzungsqualität erheblich steigern, ohne dass der Aufwand ausufert. 

  1. Skizzen eignen sich, um sehr schnell eine Idee zum Ausdruck zu bringen und sofort Feedback einzuholen. Skizzen sollten bewusst wenig Aufwand erfordern und dürfen auch entsprechend aussehen, denn damit senkt man bei Betrachtern gleichzeitig die Hemmschwelle, grundlegende Kritik oder Anpassungswünsche vorzubringen.
  2. Wireframes repräsentieren das Grundgerüst einer Idee und kommunizieren diese ohne Dekoration. Sie gehen über die «Kernidee» aus und vertiefen einzelne Aspekte und Funktionsweisen. Dadurch können einzelne Elemente genauer betrachtet und überprüft werden. Oft wird der Wireframe-Zustand zu schnell wieder verlassen, dabei kann man hier bereits viele relevante Probleme erkennen und mit noch minimalem Aufwand beheben. 
  3. Mit dem ausgestalteten Visual Design wird den Wireframes die sichtbare Haut übergezogen: Nun sieht der «Hi-Fi» Prototyp fast so aus, wie das Endprodukt aussehen wird – solange man nicht damit interagiert. Dies bedeutet oft viel Aufwand, aber auch die Möglichkeit, das System emotionaler zu erleben, was für Akzeptanztests oft unabdingbar ist. Wenn man allerdings zu früh auf diese visuelle Qualitätsstufe wechselt, entsteht (zu) viel Aufwand, um Varianten auszuprobieren und noch weiterzuentwickeln: Für jede Variante, jede iterative Verbesserung muss wieder das «fertige Design» erstellt werden.  

Der visuelle Reifegrad kann wichtig sein und ein schöner Prototyp macht halt einfach sofort einen guten Eindruck. Allerdings wächst der Aufwand schnell überproportional zum Ertrag, wenn es um das Einholen von Nutzer-Feedback geht. 

Prototyping in drei Reifegraden.
Dimension 2: Informationstreue 

Prototypen enthalten Daten, z.B. Texte oder Bilder. Werden diese Daten von einem Menschen interpretiert, wird daraus Information. Informationstreue bedeutet nun, dass die dargestellten Daten konsistent sind und sinnvolle Information ergeben. Wir beobachten, dass gerade diese Dimension oft vernachlässigt wird. Dies kann verhängnisvoll sein, denn Testpersonen werden so entweder irritiert oder sie verstehen das betrachtete Gesamtkonstrukt nicht.  

Häufig werden Prototypen mit sogenannten Blindtexten versehen, typischerweise «Lorem Ipsum…». Diese Texte repräsentieren westeuropäische Wort und Satzlängen ohne Bedeutung und ermöglichen es, Interface-Elemente zu illustrieren. Leider tragen sie aber wenig zur Steigerung der Informationstreue bei. 

Ein Kniff, um mit wenig Aufwand die Informationstreue zu erhöhen, ist das Verwenden von Daten, welche realistisch für den jeweiligen Anwendungsfall sind, dabei aber klar als falsch erkannt werden. Dadurch wird es den Testpersonen möglich, Fehler in den Daten zu ignorieren und damit trotzdem realistisches Feedback zu geben. Für Personendaten eignen sich beispielsweise allseits bekannte Geschichten (Marvel oder DC Comics, Donald Duck, etc.) oder auch möglichst geschlechtsneutrale Musternamen, z.B. Kim Muster oder Jo Meier.  

Ein weiteres Set interessanter Daten befasst sich mit Extremen. Der längste und kürzeste Name, eine Adresse mit mehreren Adresszusätzen, eine Person mit 7 Telefonnummern, etc. Die Verwendung eines solchen Datensets schon im Prototyp stellt sicher, dass ein Konzept auch für solche Fälle funktioniert. 

Informationstreue ist die am meisten unterschätzte Prototyping-Dimension, denn die Bedeutung und Zusammenhänge, die diese Informationen vermitteln, sind zwar dem UX-Designer (implizit) bekannt, Testpersonen und andere Betrachter sind aber darauf angewiesen, diese Zusammenhänge ohne Vorwissen aus dem System heraus zu erkennen (was das Testen mit «echten» Testpersonen genau so wertvoll macht). Sind die dazu erforderlichen Informationen nicht im gesamten Prototyp konsistent umgesetzt, vermindert sich in einem Testing das Auffinden von Problemen dramatisch und gewisse Fragestellungen können schlicht nicht angegangen werden. 

Dimension 3: Interaktion 

Vom statischen Screen (Mockup) bis zum komplett interaktiven Prototyp, welcher beispielsweise Datenerfassung und auch Fehlhandlungen zu simulieren erlaubt, ist es ein weiter Weg. Um hier keinen unnötig grossen Aufwand zu betreiben, muss vorab festgelegt werden, was genau überhaupt getestet werden soll: Welche Teile des Produkts, welche Prozesse und Funktionen wollen wir evaluieren? Welche Fragestellungen sollen beantwortet werden? Erst wenn das klar ist, kann das korrekte Level an (unbedingt nötigen) Interaktionen festgelegt werden. Aber Vorsicht: Ein typischer Fehler ist es, nur den geplanten "korrekten" Pfad umzusetzen. Dies zeigt dem Auftraggeber zwar wunderschön auf, wie das Produkt funktioniert und aussieht (was natürlich auch sehr wertvoll ist), hat aber im Usability-Testing zwei gravierende Nachteile: 

  1. Die Testperson kann nur auf eine Weise im Prozess weiterkommen und probiert im Test einfach so lange aus, bis sie erfolgreich ist. So findet sie oft zügig den richtigen Weg, ohne das System überhaupt verstanden zu haben. Zudem ist «Fehlertoleranz» ein wichtiges Kriterium der Usability. Wenn man nun nicht beobachten kann, wie sich Nutzer irren und verirren (was auch bei perfektem Design passieren kann), bevor sie wieder zurück auf den richtigen Pfad finden (oder eben nicht), kann dieser – insbesondere in Prozessen oder Informationsarchitektur äusserst wichtige – Aspekt schlicht nicht geprüft werden. 
  2. Werden keine «falschen» Wege abgebildet, wird der Interaktions-Designer nicht dazu angeregt, über das gesamte Navigationssystem, Alternativpfade, Abkürzungen, Fehler und deren Lösung nachzudenken. Um ein Gesamtsystem durchzudenken, ist dies aber unabdingbar! 
Fazit und Empfehlung 

Die nun dargelegten Dimensionen sind grundsätzlich voneinander unabhängig. Das heisst, wenn man beginnt, einen Prototyp zu entwickeln, muss für jede Dimension bewusst ein Zielniveau für den nächsten Entwicklungsschritt gewählt werden. Dabei empfehlen wir, in einer frühen Produktentwicklungsphase zunächst den Fokus auf die Informationstreue zu legen. Bei komplexen, dynamischen Produkten sollte danach die Interaktivität des Prototyps ausgebaut werden. Stehen hingegen eher Emotionen und Kommunikation im Vordergrund, lohnt es sich, zuerst den visuellen Reifegrad zu erhöhen. 

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Dr. Lukas Bänninger, Expert Consultant

Expert Consultant

Prägt seit 2009 die Ergonomen mit, Februar 2019-Mai 2020 als Chef des ausführenden Ganzen. Doktorierter Psychologe. Saxophonist und Strubbelkopf. Experte für Produkt Management, Strategieentwicklung, UCD und Verhaltensökonomie in der Produktentwicklung.

Andreas Schrafl, MSc, Experte Concept & Prototyping, Consultant

Experte Concept & Prototyping, Consultant

Alleskönner mit Fokus auf Konzept und Prototyping. Studierter Psychologe mit Erfahrung in embodied Artificial Intelligence und Computerlinguistik. Ehemaliger CTO und langjähriger Leader im Competence Center User Experience der UBS.

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